Gedenken heisst kämpfen

Redebeitrag zur Gedenkdemo in Bielefeld 09. November 2022
Liebe Freund*innen, liebe Genoss*innen,

wir stehen hier unweit des Gedenksteins der jüdischen Synagaoge mit dem auf minimalste Weise an die unvorstellbaren Schrecken erinnert wird, die in der Reichsprogromnacht am 9. November 1938 stattfanden. Das verordnete Progrom in der Nacht vom 9. auf den 10. November legte eine bis dahin nicht vorstellbare Gewaltbereitschaft gegen Juden offen. Die Synagoge an deren Standort wir hier gedenken, wurde verwüstet und geplündert. Noch in den Morgenstunden des 10. November wurden in Bielefeld fast 50 jüdische Menschen verhaftet, im Polizeigefängnis vis-a-vis der brennenden Synagoge eingesperrt und verhört. In der darauffolgenden Nacht trieben Mitglieder der SS, mit Gewehrkolben und Gummiknüppelnd schlagend, die Männer zum Bahnhof, von wo aus sie ins Konzentrationslager Buchenwald gebracht wurden.

Mit der Reichspogromnacht, in deren Verlauf im nationalsozialistischen Deutschland an die einhundert jüdische Menschen erschlagen wurden, mehrere hundert Synagogen angezündet, über 80.000 Geschäfte jüdischer Inhaber*innen geplündert und ca. 30.000 meist vermögende jüdische Männer in Konzentrationslager deportiert wurden, erreichte die Verfolgung jüdischer Menschen einen gewaltvolle neue Stufe:
Waren bis dahin an einzelnen Orten zahllose begrenzte Gewaltakte gegenüber Juden verübt worden, zeigte sich nun, dass das nationalsozialistische Regime auch vor reichsweitem, systematischen Mord an den Juden nicht mehr zurückschreckte.
Im Januar 1939 erfolgte dann in einer Reichstagserklärung die Ankündigung der „Vernichtung der jüdischen Rasse“. Spätestens jetzt aber in Wirklichkeit schon sehr viel früher konnte hören, wer hören wollte, konnte sehen, wer sehen wollte, das nach der systematischen Entrechtung und Ausgrenzung der Juden in Deutschland ihre Vernichtung in einem Völkermord begonnen hatte.

In Bielefeld wurde am 13. Dezember 1941 der erste große Deportationszug durchgeführt, in dessen Folge ungefähr 1000 jüdische Menschen, darunter auch Kinder in Sammellager z. Bsp. Nicht weit von hier am Kesselbrink gebracht und dann nach Riga verbracht wurden. Dort hatten SS, Polizei und lettische Hilfspolizisten zuvor fast 30.000 jüdische Menschen erschossen. Die blutigen Spuren des Massakers waren für die Deportierten deutlich zu sehen. Nur sehr wenige Menschen aus Ostwestfalen haben diese Deportation überlebt.

Im historischen Rückblick auf die Jahre 1933 bis 1939 wird deutlich, dass diese Jahre keineswegs Friedensjahre waren, weder in Deutschland noch in anderen Teilen Europas, wie beispielsweise in Spanien wo die deutsche Wehrmacht mit der Zerstörung Guernicas direkt an der Seite der spanischen Faschisten eingriff.
Die Zeit vor 1939 war eine Phase mehr oder weniger koordiniert geplanter Schritte und Vorstufen zur Shoah.
Für die Juden in Deutschland  - wie für zahllose Regimegegner und andere Marginalisierte- waren es Jahre der vollständigen Ausgrenzung, Stigmatisierung und Entrechtung, die die Hemmschwelle gegenüber menschenunwürdiger Drangsalierung und Misshandlung herabsetzten. Dies alles geschah als „gesellschaftlicher Prozess“ unter aktiver Mitwirkung oder aber stummer Zustimmung der Bevölkerung, der Nachbar*innen.

Gedenken heisst kämpfen, unter diesem Motto führen Antifaschist*innen seit einigen Jahren diese Demonstration am 9. November aber auch eine Reihe begleitender Veranstaltungen durch: vielen Dank dafür!
Gedenken heisst Kämpfen verstehen wir von der iL aber auch als Aufforderung derer zu Gedenken, die sich in Deutschland, aber auch in den besetzten Ländern Europas dem übermächtig erscheinenden Feind entgegengestellt haben. Denn die Tatsache, dass Menschen sich dem Nationalsozialismus offen entgegengestellt haben, um den Preis ihr Leben zu verlieren, gefoltert zu werden oder ihre Familien drangsaliert und ermordet zu sehen, wirft Fragen auf, unangenehme Fragen nach der eigenen Verortung der deutschen Bevölkerung, die im Gegensatz zum jüdischen Volk auf europäischem Boden überlebt hat und in jüngster Vergangenheit wieder einen Führungsanspruch für sich reklamiert.

Vor einigen Jahren hat Ingrid Strobl in einer historischen Untersuchung mit dem Titel >>Sag nie du gehst den letzten Weg<< den Beitrag von Frauen im bewaffneten Widerstand gegen den Faschismus und Nationalsozialismus dem Vergessen entrissen. Ihre Portraits von jungen Frauen zum Teil jüdischer Herkunft sind sehr beeindruckend. Der Band ist neu aufgelegt und noch erhältlich und unbedingt zur Lektüre zu empfehlen.
Im letzten Kapitel „Der Weg in den bewaffneten Kampf“ zeichnet sie auf eindrückliche Weise nach, dass es für junge Frauen im von den Deutschen besetzten Ländern sehr wohl eine Entscheidung gegeben hat und sie diese eindeutig getroffen haben:
„Warum ich das getan habe? Was hätte ich denn sonst tun sollen? Es war doch das einzige, was man tun konnte!“
Dieser Satz, diese scheinbar so selbstverständliche Aussage die die jungen Frauen, die gegen den Nationalsozialismus und seine bewaffneten Truppen gekämpft haben, die die Lebenden und die Toten eint, steht quer zu allem was in der Bundesrepublik normalerweise zu diesem Thema gesagt wird.
Die große Mehrheit derer, die hierzulande nicht von der Verfolgung durch den Nationalsozialismus betroffen waren ist sich einig: Man hatte nichts gewusst. Oder, falls man doch etwas gewusst hatte, man konnte doch nichts tun.
>>Was hätten wir denn tun sollen?<< steht somit einem >>Was hätten wir denn sonst tun sollen?<< gegenüber.

Kein Gegenbeweis der Realität konnte den Mythos zerstören, >>die Juden<< seien passiv, willig, ja >>freiwillig<< wie die Lämmer zur Schlachtbank gegangen. Und kein Gegenbeweis der Realität konnte den Mythos zerstören, der richtige, der militärische Widerstand gegen den Faschismus sei Männersache gewesen. Die nationalsozialistischen Mörder, die mit den wahren Tatsachen konfrontiert wurden, erschraken darüber: sie stiessen auf kämpfende Juden und auf kämpfende Frauen. Beides beeindruckte sie nachhaltig – im Gegensatz zu vielen Historikern, die in ihrer Erforschung des Widerstands Juden und Frauen konsequent übersehen.

Die Perspektive der jungen Frauen war: stumm und ergeben in den Tod zu gehen oder mit dem eigenen Tod die reibungslos funktionierende Vernichtungsmaschine des Feindes zu sabotieren.
Jede der Frauen, die Ingrid Strobl befragen konnte, oder deren Zeugnisse überliefertwurden, waren bis in ihr tiefstes Inneres davon überzeugt, dass das was sie taten, richtig, notwendig, die einzig menschenwürdige Möglichkeit überhaupt war.
Ihre Perspektive fasst Noemi Szac-Wainkranc in ihren Erinnerungen so zusammen:
„Sieg konnte nur das eine sein: so lange wie möglich auszuhalten und so viele Deutsche wie möglich zu töten. Stirb! Für meine Mutter, für den Vater, für unsere Kinder! Ich ziele auf dich! Oh Gott, gib, dass der Schuss trifft.“